Christiane Leiste ist Dozentin für Mindful-Leadership an der Hochschule Osnabrück und Deep-Democracy-Coach. Im Rahmen des Osnabrücker Friedensjubiläums bietet sie bezugnehmend auf die unterschiedlichen Themenmonate sogenannte „Friedensstreits“ an. Wir haben mit ihr über Achtsamkeit, den Myrna Lewis Deep-Democracy-Ansatz und die Produktivität von Streitgesprächen gesprochen.
INTERVIEW NOAH SCHNARRE | FOTO MARION VAN DER MEHDEN
STADTBLATT: An der Hochschule Osnabrück bieten Sie einen Kurs zu „Mindful-Leadership“ an. Was ist darunter zu verstehen?
CHRISTIANE LEISTE: Beim Konzept „Mindfulness“ zu Deutsch „Achtsamkeit“, geht es vornehmlich darum, sich selbst besser kennenzulernen, die Selbstwahrnehmung in Bezug auf die eigenen Gedanken, Gefühle und den Körper zu schärfen und bewusster zu werden. Wir trainieren den Geist, den gegenwärtigen Moment, bewusst und ohne zu urteilen zu erleben und dadurch reflektierter zu Handeln. Dass wir beispielsweise mit unseren Gedanken nicht mehr nur in der Vergangenheit und der Zukunft sind, sondern im Jetzt. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass dies ausgesprochen heilsam ist und zwar für Körper und Geist. Und unsere Resilienz wird gestärkt. Unser Handeln können wir dann dementsprechend verändern, sodass wir nicht mehr im Autopiloten, reaktiv handeln, sondern bewusster entscheiden können, wie wir handeln wollen. Dies ist natürlich auch im Kontext von Führung hochrelevant.
STADTBLATT: Wie sieht dieses Achtsamkeits training konkret aus?
CHRISTIANE LEISTE: Durch verschiedene Übungen und Meditationen üben wir, das Bewusstsein auf den gegenwärtigen Moment zu fokussieren. Die Studierenden, die meinen Kurs für ein Se mester belegen, haben so die Möglichkeit, ihren Blick und ihre Interaktionen mit der Umwelt zu reflektieren und in ihrer Persönlichkeit zu wachsen.
STADTBLATT: Mit Blick auf unsere heutige Zeit, einer Zeit der Krisen, Umbrüche und einer ungewissen Zukunft, sicherlich ein ratsamer und notwendiger Schritt …
CHRISTIANE LEISTE: Absolut. Gerade jungen Menschen sind gegenwärtig mit einer Vielzahl von Krisenerfahrungen konfrontiert, die sich häufig in Zukunftsängste übersetzen. Studien zeigen, dass ein Drittel der Studierenden unter klinischen Depressionen leidet, unter Ängsten oder in irgend einer Weise psychisch krank ist. Und das ist ein Trend, der gegen wärtig in der gesamten Gesellschaft nicht ab-, sondern zunimmt. Hier setzt das Achtsamkeitskonzept an, kann heilsam wirken und dieser Entwicklung vorbeugen.
STADTBLATT: Neben Ihrer Tätigkeit an der Hochschule Osnabrück, sind sie auch „Deep-Democracy-Coach“. Was verbirgt sich dahinter?
CHRISTIANE LEISTE: Der „Deep-Democracy-Ansatz geht ursprünglich auf den Quantenphysiker und Psychologen Arnold Mindell zurück. Angelehnt an die Quantenphysik hat Mindell die sogenannte prozesshafte Psychologie entwickelt, die nicht mehr lediglich den einzelnen Menschen in den Blick nimmt, sondern vornehmlich die Prozesse, die zwischen den Menschen passieren. Nach dem Ende der Apartheid in Südafrika hat Myrna Lewis diese Theorie in konkret anwendbare Tools übersetzt, um gesellschaftliche Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse zu demokratisieren und Konflikte zu lösen.
STADTBLATT: Wie kann man sich das vorstellen?
CHRISTIANE LEISTE: Die Vorstellung, dass sich Minderheiten in unserer heutigen Demokratie im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess der Mehrheitsmeinung anschließen, ist illusorisch. Wenn man nicht gehört wird und bei Entscheidungen nur eine geringe Rolle spielt, nicht vorkommt, dann entwickelt man ein Aversionsverhalten. Man versucht dann lauter zu werden, geht in den Widerstand, bis man endlich gehört wird. Letztlich ist die dahinterstehende These, dass alle Menschen, die in irgendeiner Weise von den zu treffenden Entscheidungen betroffen sind, aktiv in diese Prozesse einbezogen werden müssen. Ansonsten entwickeln sich Probleme und Konflikte, die sich schlussendlich in Radikalisierung oder sogar Extremismus manifestieren.
STADTBLATT: Lewis spricht in diesem Kontext auch von der „Terrorist-Line“ …
CHRISTIANE LEISTE: Heute sprechen wir daran anschließend von der sogenannten „Widerstands linie“: Es gibt konkrete Symptome, an denen man ablesen kann, wie stark sich Menschen mit Minderheitenmeinungen im Widerstand befinden und wo als Konsequenz daraus Unruheherde ausbrechen können, wenn diese Menschen nicht gehört und einbezogen werden. Es geht also darum, Strategien zu entwickeln, um insbesondere auch Meinungen abseits der Mehrheit Gehör zu verschaffen.
STADTBLATT: Entstehen dadurch nicht neue Konflikte und Spannungen?
CHRISTIANE LEISTE: Zu jedem Thema gibt es unterschiedliche Sichtweisen und Ansichten. Und wenn wir alles zu Gehör bringen, entstehen natürlich Reibungen und Spannungen. Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Drücken wir unliebsame Mei nungen schnell wieder zurück unter die Wasser linie, ins Nicht-Sichtbare? Oder sehen wir darin das Potenzial für Veränderungen, die Befähigung mit Spannungen und Konflikten so umzugehen, dass wir uns diese intrinsische Kraft als Treiber für Erneuerungen nutzbar machen?
STADTBLATT: Ist unsere heutige Debattenkultur überhaupt darauf ausgelegt, auch mit eskalativen Meinungen umzugehen?
CHRISTIANE LEISTE: In gegenwärtigen Diskussionen erleben wir häufig die Strategie, unliebsame Meinungen zu unterdrücken, die sogenannte „Cancel Culture“. Wir lassen bestimmte Meinungen gar nicht erst zu, und das ist ein riesiges Problem! Indem wir Meinungen unterdrücken und igno rieren, verschwinden sie nicht, sondern werden umso stärker und radikaler. Das erleben wir ganz konkret im Kontext um die Wahlerfolge von Donald Trump oder die zunehmende Akzeptanz der AfD. Auf der anderen Seite fehlen uns im Alltag die notwendigen Werkzeuge, die einen produk tiven Streit ermöglichen. Viel zu oft gehen wir rücksichtslos aufeinander los, verlagern die Diskussionen in soziale Medien, in denen, oft anonym, die furchtbarsten Dinge gesagt werden und großes Unheil angerichtet wird.
STADTBLATT: Der „Deep-Democracy-Ansatz“ versucht, das Streitgespräch zu formalisieren und eben jene Werkzeuge anzubieten. Wie funktioniert das?
CHRISTIANE LEISTE: Der formalisierte Streit folgt der Prämisse, dass die Teilnehmer:innen anerkennen, dass niemand der Anwesenden das Monopol auf die Wahrheit hat und daher im Streitgespräch alles zur Sprache und über die Wasserlinie geholt werden kann. Es geht also weniger darum, was man selbst für wahr oder falsch hält, sondern darum, nachzuvollziehen, warum eine Person eine bestimmte, vielleicht auch radikale, Meinung vertritt, sich darauf einzulassen und die Perspektive zu tauschen. Diese Auseinandersetzungen sind natürlich höchst emotional. Daher muss sich jede Person im Klaren sein, dass man während dieser Konfrontation auch verletzt werden kann. Die sich daran anschließende Reflexion über die eigene Verletztheit, das tiefe Zuhören, lässt dann aber eine ganze neue Form des Miteinanders zu, aus dem sich neue Schlüsse, Impulse und Entscheidungen ableiten lassen.
STADTBLATT: Das klingt fast nach der berühmten Formel „Mit Rechten reden“ ...
CHRISTIANE LEISTE: Als ich mit „Deep-Democracy“ angefangen habe, dachte ich, dass es für mich klare rote Linien des Nicht-Sagbaren gibt. Ich bin aber schnell eines Besseren belehrt worden. Denn gerade rassistische und fremdenfeindliche Ein stellungen gehören zu den Minderheitenmeinungen, die der „Deep-Democracy-Ansatz“ in den Blick nimmt. Indem ich diese Meinungen im formalisierten Streit zulasse, grenze ich sie nicht mehr aus und beuge der weiteren Radikalisierung vor. Denn Ausgrenzung ist in den meisten Fällen eine Strategie, die eigenen als negativ wahrgenommen Einstellungen auf andere zu projizieren. Ich werde mir in der Auseinandersetzung also auch über meine eigene Fremdenfeindlichkeit bewusst und befreie die mir gegenüberstehende Person gleichzeitig von einem Prozess der immer weiter fortschreitenden Radikalisierung.
Dieses Interview wurde in der Ausgabe 8/2023 des "Stadtblatt" Osnabrück veröffentlicht.
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